Die Bezeichnung Achtsamkeit (mindfulness) wird als (1) mentaler Zustand, als (2) Fähigkeit diesen Zustand zu erzeugen und aufrechtzuerhalten oder als (3) Verfahren, um diesen Zustand zu erreichen (basierend auf unterschiedlichen Methoden, s.u.), verwendet. Die Philosophie hinter Achtsamkeit („Sati“ in der altindischen Pali-Sprache) stammt aus Indien und breitete sich von dort v.a nach Osten, über Myanmar, China und Japan weiter aus. Das Konzept der Achtsamkeit ist keine buddhistische Erfindung, der Hinduismus und diverse Yoga-Traditionen versuchen ebenfalls, Wege zur Achtsamkeit aufzuzeigen. Alle Traditionen bedienen sich dabei unterschiedlicher Techniken oder Rituale, um den Zustand der Achtsamkeit zu erlangen und aufrechtzuerhalten.
Achtsamkeit als Zustand beinhaltet „reine“ Aufmerksamkeit des gegenwärtigen Moments bzgl. der externen und internen Zustände. Rein deswegen, weil dabei keine gedankliche oder emotionale Bewertung bzw. Klassifikation des Wahrgenommenen vorgenommen und so eine ganze Kaskade von Gedanken vermieden werden soll. So kann eine anstrengende Tätigkeit unangenehme Empfindungen mit sich bringen, die wahrgenommen werden und entsprechende Gedanken der Ablehnung hervorrufen („es ist unangenehm, es soll aufhören!“), die wiederrum die Intensität dieser unangenehmen Empfindungen weiter erhöhen. Bei einem achtsamen Ausüben derselben anstrengenden Tätigkeit, würden die Empfindungen zwar registriert werden, die gedankliche Verstärkung der Negativität aber verhindert und damit der verbundene Stress nicht noch verstärkt werden. Das Einnehmen einer achtsamen Haltung soll latente Verhaltenstendenzen und Gewohnheiten, welche negative bis destruktive Emotionen (z.B. Zorn) hervorrufen, reduzieren helfen und gleichzeitig das Auftretens von positiven Emotionen und von Mitgefühl fördern.
Jon Kabat-Zinn, der Begründer des ersten therapeutischen, achtsamkeitsbasierten Verfahrens (s.u.) gibt folgende Definition für den Zustand der Achtsamkeit ‘‘paying attention in a particular way, on purpose, in the present moment, and nonjudgmentally’’ .
Es gibt allerdings (wie üblich, bei mentalen Konstrukten) keine Konsensdefinition. Dies erschwert die Generalisierbarkeit und Interpretation von Forschungsergebnissen zum Thema Achtsamkeit und Achtsamkeit als Therapieform. Der größte gemeinsame Nenner verschiedener Definitionsansätze ist die möglichst ununterbrochen aufrechterhaltene Aufmerksamkeit für den gegenwärtigen Moment.
Meditation ist ein erprobter und sicherlich der bekannteste Weg zur Erreichung von Achtsamkeit als mentalen Zustand. Meditationstechniken lassen sich grob zwei Arten zuordnen, Techniken mit und ohne spezifisches Ziel für die Aufmerksamkeit. Erstere dienen dazu, Konzentration an sich herzustellen, z.B. indem ein bestimmtes Wort (Mantra) laufend verbal oder geistig wiederholt wird. Letztere erfordern die Beobachtung von Wahrnehmungen oder Emotionen, ohne dadurch gedankliche Prozesse in Gang zu setzen (z.B. Klassifikation als angenehm oder unangenehm, was den Wunsch nach Fortbestand oder Ende des Gefühlten nach sich zieht).
Es gibt allerdings verschiedenste Wege, die Fähigkeit zur Achtsamkeit zu verbessern. Konzentration und Gelassenheit sind dabei zwei Kernelemente, die es zu stärken gilt.
Die Begriffe Vipassana und Zen stehen für buddhistische Denkschulen, die unterschiedliche Meditationstechniken zum Erlangen und Stärken der Achtsamkeit hervorgebracht haben. Ihre Philosophie und Techniken sind Grundlage moderner therapeutischer Achtsamkeitsverfahren.
Mindfulness-based Stress Reduction (MBSR) zielt als Verfahren zur achtsamkeitsbasierten Stressreduktion auf das Wahrnehmen und Mindern von Stress. Als erstem achtsamkeitsbasierten Verfahren, entwickelt von Jon Kabat-Zinn und eingesetzt seit 1979, kommt diesem Programm eine Vorreiterrolle zu, dessen Erfolg die Entwicklung weiterer Verfahren begünstigt hat.
Kabat-Zinn mischt Übungen aus verschiedenen buddhistischen Strömungen und bezeichnet sein Programm selbst, als Vipassana-basiert mit Einschlägen aus der Zen-Schule.
Mindfulness-based cognitive therapy (MBCT), also achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie, soll depressiven Menschen dabei helfen, keine Rückfälle mehr in schwere depressive Episoden zu erleiden. Dieses, von Segal und Kollegen entwickelte, Programm baut einerseits auf buddhistischer Philosophie und Kabat-Zinns MBSR auf, bedient sich andererseits den Erkenntnissen der kognitiven Verhaltenstherapie.
Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) wurde von der Psychologin Marsha Linehan für Borderline-Patienten entwickelt. Im späteren Verlauf wurden angepasste Programme für andere Zielgruppen hinzugefügt. Das Verfahren stützt sich auf Verhaltenstherapie und die Zen-Philosophie. Ziel ist es, den Patienten einen effektiven Umgang mit emotionsauslösenden Reizen zu vermitteln, indem die oben bereits erwähnten Gedankenkaskaden verhindert werden sollen. Dadurch werden Strategien wie Flucht, Vermeidungsverhalten oder andere ineffektive oder dysfunktionale Reaktionen auf intensive Emotionen nach und nach abgelegt.
Die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) von Hayes und Kollegen bezieht sich weniger auf die Philosophie der Achtsamkeit, sondern auf Hayes „Bezugsrahmentheorie“ (relational frame theory). Da die Techniken des Verfahrens eine große Ähnlichkeit zu denen in achtsamkeitsbasierten Therapien aufweisen, wird ACT oftmals dieser Gruppe von Verfahren zugeschrieben, auch wenn kein philosophischer Bezug zu Vipassana oder Zen besteht. Die Therapie richtet sich an verschiedene Störungsbilder und zielt auf die Verbesserung des dysfunktionalen Umgangs mit Gedanken und negativen Emotionen ab.
Während MBSR und MBCT explizit Meditation im Rahmen der Therapie einsetzen, ist dies bei DBT und ACT nicht der Fall. Hier werden die Patienten dazu angeleitet, ihre Wahrnehmung und Akzeptanz ihrer Selbst sowie ihrer Gedanken und Emotionen durch neue Sichtweisen auf diese zu ändern. Haben sich die Patienten so aus den Begrenzungen ihrer Wahrnehmung und Verhaltenstendenzen gelöst, können sie funktionelle Schritte zur Verbesserung ihres Zustandes und ihrer Lebensumstände unternehmen.
Untersuchungen zur Wirksamkeit der vier obengenannten Verfahren zeigen Erfolge in der Behandlung der jeweiligen Zielgruppe und sogar darüber hinaus. MBSR zeigt sich als ähnlich wirksam wie andere, auf Stressreduktion abzielende Programme, reduzierte aber zudem Grübeln und Ängstlichkeit, bei gleichzeitiger Steigerung von Empathie und Selbstliebe. MCBT erwies sich als genauso effektiv in der Reduzierung von depressiven Rückfällen wie eine antidepressive Pharmakotherapie. Im Zusammenhang mit Angst, Depression und chronischen Schmerzen erwiesen sich die Verfahren als ähnlich wirksam wie klassische kognitive Verhaltenstherapie.
Das Konzept der Achtsamkeit stammt aus der buddhistischen Psychologie und wurde als Weg zur Befreiung von Leiden beschrieben. Man braucht jedoch kein Buddhist sein, um von den Techniken Achtsamkeit zu profitieren.
Das von Prof. Kabat-Zinn konzipierte Achtsamkeitstraining „Mindfulness–Based Stress Reduction“ (MBSR) macht die Praxis der Achtsamkeit auch für die westliche Welt und die Psychotherapie zugänglich. MBSR wurde seit Ende der 70er in seiner Wirkung in einer Vielzahl von Studien beforscht. Mehr als 50 Forschungsstudien belegen, dass die Haltung der Achtsamkeit bei ganz verschieden Formen von Stress wirksam ist. Die Forschung zeigt auch, dass etliche körperliche und psychische Stresssymptome reduziert werden und dass die allgemeine Lebensqualität und das Wohlbefinden der Kursteilnehmer verbessert werden. Achtsamkeit bedeutet ganz im Hier und Jetzt zu sein und die Aufmerksamkeit entweder auf die äußere Welt also die Sinneswahrnehmung zu richten oder aber auf die Innenwelt mit den Gedanken, Gefühlen und inneren Bildern.
Achtsamkeit ist dabei eine Fähigkeit, die wir alle auf natürliche Weise besitzen, wir können sie jedoch üblicherweise ohne Schulung nicht länger als wenige Sekunden auf ein Wahrnehmungsobjekt gerichtet halten.
Das mag zunächst banal klingen, steht jedoch im krassen Gegensatz zu unserem gewöhnlichen Geisteszustand, der dominiert ist von sprunghaften Gedankenvorgängen, die meist mit To-do-Listen oder emotional aufgeladenen Themen befasst sind. Unsere Stimmung ist durch diesen Gedankenwust stark beeinflusst und es entsteht ein Empfinden von Stress. Meist sind wir uns nicht darüber bewusst, dass wir selbst in hohem Maße Einfluss auf unser Befinden haben, sondern fühlen uns abhängig von den Geschehnissen und Handlungen der Außenwelt. Die Achtsamkeit gibt uns einen Teil dieser Verantwortung zurück, indem sie bewusst macht, welchen Einfluss wir selbst auf die Entstehung unangenehmer Empfindungen haben.
Zahlreiche wissenschaftliche Studien zur Achtsamkeit belegen eine positive Wirkung auf die psychische und körperliche Gesundheit. Durch mehr Achtsamkeit verfeinert sich maßgeblich unsere Selbstwahrnehmung. Wir nehmen Körper und Geist differenzierter wahr und es gelingt uns immer besser die körperlichen und psychischen Bedürfnisse zu erkennen. Ein Beispiel: Sie stehen im Supermarkt wieder in der „falschen Schlange“, es geht nicht voran. Sie merken, wie sie ungeduldig die Schultern hochziehen und von einem Bein aufs Andere wippen. Sie spüren den Ärger über die langsame Kassiererin, der in diesem Moment Stress in Ihnen selbst verursacht. Die Übung in der Haltung der Achtsamkeit ermöglicht, die Rolle eines interessierten Beobachters einzunehmen. Indem sie sich ihrer Gefühle und Wahrnehmungen bewusst werden, sie beobachten, verändern diese sich meist schon zum Positiven. Sie können die Schultern entspannen, durchatmen und vielleicht verändert sich ihr Ärger, wenn Sie sehen, sie sehr sich die Kassiererin anstrengt. Indem Sie den Ärger bewusst wahrnehmen, bekommen Sie die Wahl. Wollen sie ihn noch mehr anheizen oder nehmen Sie diesen Augenblick des Wartens als Chance, Mitgefühl zu entwickeln, in den Körper zu spüren und innere Ruhe einkehren zu lassen.
Vielleicht ein profanes Beispiel. Aber es zeigt wie Achtsamkeit Freiheit gewährt, indem man sozusagen von außen auf das eigene Denken und das dadurch ausgelöste Fühlen blickt. Wir lernen dadurch eingefahrene Denk-, Fühl- und Verhaltensmustern zu verändern, indem man sie zunächst bewusst wahrnimmt. Wir beobachten und bekommen die Wahl. Wir haben die Möglichkeit aus dem Auto-Piloten auszusteigen und das Steuer selbst in die Hand zu nehmen. Gerade jüngste Forschungsergebnisse aus Neurologie und Psychologie zeigen, wie viel Einfluss eine gelassene und angstfreie innere Haltung auf das körperliche Wohlbefinden hat und wie andererseits die Fähigkeit, sich körperlich zu entspannen oder die Rückkehr zur reinen Sinneswahrnehmung zu einer guten Stimmung führen kann.
Achtsam sein hilft freundlicher mit sich selbst und eigenen Gefühlen umzugehen. Wenn wir im Augenblick leben, werden wir innerlich ruhiger, weniger getrieben und können besser annehmen was ist. So kann man sich z.B. häufiger die Frage stellen: „was ist in genau diesem Moment nicht in Ordnung?“. Häufig wird man merken, dass im aktuellen Moment keine Probleme vorhanden sind, dass diese ausschließlich in Gedanken an Zukunft oder vergangene Belastungen entstehen und in einer Endlosschleife wiederholt und aufrechterhalten werden. Wenn wir wieder „zu Sinnen kommen“ verfliegen viele Probleme von allein, ohne dass wir sie mühsam lösen mussten. Das bedeutet nicht alles im Leben so hinzunehmen wie es ist, sondern sich einer Problemlösung voll bewusst zuzuwenden und diese dann wieder loszulassen. Oder haben Sie schon einmal beim Zähneputzen schwerwiegende Probleme gelöst? Über Probleme nachgedacht haben wir dabei alle schon mal.
Ziele des Achtsamkeitstrainings sind Verringerung stressbedingter psychischer Symptome, Entwicklung von Gelassenheit, Lebensfreude und Zufriedenheit, Entwicklung eines besseren Körperbewusstseins und Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit, Erhöhte Akzeptanz für sich selbst und andere. Durch die Methoden der Achtsamkeit soll besonders ein verbesserter Umgang mit Stress in unserer Burn-out gefährdeten Gesellschaft erreicht werden. Die Übungen sollen dabei helfen ganz im „hier und jetzt“ zu sein. Angefangen mit der Übung, sich des Atems bewusst zu werden, in den Körper hineinzuspüren, seinen Gedankenstrom zu beobachten, ohne ihn zu bewerten, Gefühle und ihre Repräsentation im Körper wahrzunehmen bis hin zu Visualisierungen, die z.B. innere Ruhe herstellen können.
Ziel ist zudem sich Inseln der Achtsamkeit zu schaffen und diese zur Gewohnheit werden zu lassen, beispielsweise 5 Minuten Achtsamkeitstraining am Morgen. Dies erleichtert auch im Alltag achtsam zu bleiben und immer wieder innezuhalten.
Übung ist deshalb besonders nötig, weil unser Alltag ein tägliches Training permanenter Ablenkung und gedanklichem Springens ist. Wir sind von allen Seiten abgelenkt von E-Mail, Handy, anrufen, Werbung usw. Wir haben somit alle ein antrainiertes „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“. Das tägliche Achtsamkeitstraining stellt hierzu ein wichtiges Gegengewicht dar. Zudem wirkt sich das tägliche Training positiv auf unsere Immunaktivität aus, d.h. dass die tägliche Übung auch eine Stärkung unserer Abwehrkräfte darstellt. Dabei wird jeder angehalten seine eigene und für ihn passende Form des Achtsamkeitstrainings zu finden.