SOMATOFORME STÖRUNG

WAS IST EINE SOMATOFORME STÖRUNG?

  • Menschen, die unter einer somatoformen Störung leiden, reagieren auf Stress, Druck und kritische Lebensereignisse mit körperlichen Symptomen. Dies sind häufig Symptome wie Rücken-, Kopf- oder Bauchbeschwerden, Schwindel oder Schmerzen im Brustbereich, aber auch andere körperliche Beschwerden treten auf.
  • Beim Besuch mehrerer (Fach-) Ärzte kann keine eindeutige medizinische Ursache erkannt werden. Oft ist es schwer für die Betroffenen, dies zu akzeptieren.
  • Die körperlichen Beschwerden halten über eine längere Zeit an oder wechseln sich ab. Die Folge davon ist, dass sich die erkrankte Person ständig mit den Symptomen beschäftigt und einen „Ärztemarathon“ absolviert. Betroffene leiden sehr darunter.
  • Die Symptomatik von Personen mit somatoformen Störung zeigt sich vielfältig und bei jedem auf eine individuelle Art und Weise.

WELCHE ARTEN VON SOMATOFORMEN STÖRUNGEN GIBT ES?

  • Bei einer Somatisierungsstörung liegen mehrere Beschwerden über mindestens 2 Jahre – oft mit wechselnder Symptomatik – vor. Typisch sind gastro-intestinale (Bauchschmerzen, Übelkeit, Durchfall etc.), kardiovaskuläre (atemlos ohne Anstrengung, Brustschmerzen), urogenitale (Probleme beim Wasserlassen, unangenehme Empfindungen im Genitalbereich), Haut- und Schmerzsymptome (Fleckigkeit der Haut, Gliederschmerzen, Taubheitsgefühle).
  • Die somatoforme autonome Funktionsstörung ist wie die Somatisierungsstörung eine psychische Störung, die aufgrund der Beschwerden eine körperliche Erkrankung vermuten lässt, für die jedoch keine körperlichen Ursachen zu finden sind. Zusätzlich liegen mindestens zwei sogenannte vegetative Symptome (z. B. Herzklopfen, Schweißausbrüche, Mundtrockenheit, Hitzewallungen) vor. Insgesamt tritt dieses Störungsbild am häufigsten auf.
  • Menschen, die sich beharrlich mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Krankheiten zu leiden, befassen, leiden häufig an einer hypochondrischen Störung. Auch die andauernde Beschäftigung mit körperlichen Phänomenen ist typisch für hypochondrische Personen. Hierbei interpretieren sie leichte Körperveränderungen oder -empfindungen als (lebens-)gefährlich oder Zeichen einer schweren Krankheit. Ebenfalls zu diesem Bereich gehört die sogenannte körperdysmorphe Störung (die Überzeugung, an einem äußerlichen „Makel“ zu leiden, der objektiv von anderen nicht wahrgenommen wird).
  • Etwa 30% der Patienten einer Allgemeinarztpraxis leiden unter einer somatoformen Störung.

WIE WIRD DIE DIAGNOSE „SOMATOFORME STÖRUNG“ (NACH ICD-10: F45) GESTELLT?

Somatisierungsstörung (F45.0)

  • Eine Vorgeschichte von mindestens zwei Jahren mit anhaltenden Klagen über multiple und wechselnde körperliche Symptome, die durch keine diagnostizierbare körperliche Krankheit erklärt werden können. Eine eventuelle vorliegende bekannte körperliche Krankheit erklärt nicht die Schwere, das Ausmaß, die Vielfalt und die Dauer der körperlichen Beschwerden oder die damit verbundene soziale Behinderung. Wenn einige vegetative Symptome vorliegen, bilden Sie nicht das Hauptmerkmal der Störung, d.h. sie sind nicht besonders anhaltend oder belastend. Die ständige Beschäftigung mit den Symptomen führt zu andauerndem Leiden und dazu, dass die Patienten mehrfach (drei oder mehrmals) um Konsultationen oder Zusatzuntersuchungen in der Primärversorgung oder beim Spezialisten nachsuchen. Wenn aus finanziellen oder geographischen Gründen medizinische Einrichtungen nicht erreichbar sind, kommt es zu andauernder Selbstmedikation oder mehrfachen Konsultationen bei örtlichen Laienhelfern.
  • Hartnäckige Weigerung, die medizinische Feststellung zu akzeptieren, dass keine ausreichende körperliche Ursache für die körperlichen Symptome vorliegt. Akzeptanz der ärztlichen Mitteilung allenfalls für kurze Zeiträume bis zu einigen Wochen oder unmittelbar nach einer medizinischen Untersuchung spricht nicht gegen diese Diagnose.
  • Insgesamt sechs oder mehr Symptome aus der folgenden Liste, mit Symptomen aus mindestens zwei verschiedenen Gruppen:
  • Gastro-intestinale Symptome: (1) Bauchschmerzen, (2) Übelkeit, (3) Gefühl von Überblähung, (4) schlechter Geschmack im Mund oder extrem belegte Zunge, (5) Klagen über Erbrechen oder Regurgitation von Speisen, (6) Klagen über häufigen Durchfall oder Austreten von Flüssigkeit aus dem Anus.
  • Kardio-vaskuläre Symptome: (7) Atemlosigkeit ohne Anstrengung, (8) Brustschmerzen.
  • Urogenitale Symptome: (9) Dysurie oder Klagen über die Miktionshäufigkeit, (10) unangenehme Empfindungen im oder um den Genitalbereich, (11) Klagen über ungewöhnlichen oder verstärkten vaginalen Ausfluss.
  • Haut und Schmerzsymptome: (12) Klage über Fleckigkeit oder Farbveränderungen der Haut, (13) Schmerzen in den Gliedern, Extremitäten oder Gelenken, (14) unangenehme Taubheit oder Kribbelgefühl.

Hypochondrische Störung (F45.2)

  • Eines der folgenden Symptome: Eine mindestens sechs Monate anhaltende Überzeugung an höchstens zwei schweren körperlichen Krankheiten (von denen mindestens eine speziell von den Patienten benannt sein muss) zu leiden. Oder: anhaltende Beschäftigung mit einer vom Betroffenen angenommenen Entstellung oder Missbildung (dysmorphophobe Störung).
  • Die ständige Sorge um diese Überzeugung und um die Symptome verursacht andauerndes Leiden oder eine Störung des alltäglichen Lebens und veranlasst die Patienten, medizinische Behandlungen oder Untersuchungen (oder entsprechende Hilfe von Laienheilern) nachzusuchen.
  • Hartnäckige Weigerung, die medizinische Feststellung zu akzeptieren, dass keine ausreichende körperliche Ursache für die körperlichen Symptome bzw. Entstellungen vorliegt. Akzeptanz der ärztlichen Mitteilung allenfalls für kurze Zeiträume bis zu einigen Wochen oder unmittelbar nach einer medizinischen Untersuchung.

Somatoforme autonome Funktionsstörung (F45.3)

  • Symptome der autonomen (vegetativen) Erregung, die von den Patienten einer körperlichen Krankheit in einem oder mehreren der folgenden Systeme oder Organen zugeordnet werden: (1) Herz und kardiovaskuläres System, (2) oberer Gastroinestinaltrakt (Ösophagus und Magen), (3) unterer Gastrointestinaltrakt, (4) respiratorisches System, (5) Urogenitalsystem.
  • Zwei oder mehr der folgenden vegetativen Symptome: (6) Palpitationen, (7) Schweißausbrüche (heiß oder kalt), (8) Mundtrockenheit, (9) Hitzewallungen oder Erröten, (10) Druckgefühl im Epigastrum, Kribbeln oder Unruhe in der Magengegend. Eines oder mehr der folgenden Symptome: (11) Brustschmerzen oder Druckgefühl in der Herzgegend, (12) Dyspnoe oder Hyperventilation, (13) außergewöhnliche Ermüdbarkeit bei leichter Anstrengung, (14) Aerophagie, Singultus oder brennendes Gefühl im Brustkorb oder im Epigastrium, (15) Bericht über häufigen Stuhlgang, (16) erhöhte Miktionsfrequenz oder Dysurie, (17) Gefühl der Überblähung oder Völlegefühl.
  • Kein Nachweis einer Störung von Struktur oder Funktion der Organe oder Systeme, über die die Patienten klagen.

Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4)

  • Mindestens sechs Monate kontinuierlicher, an den meisten Tagen anhaltender, schwerer und belastender Schmerz in einem Körperteil, der nicht adäquat durch den Nachweis eines physiologischen Prozesses oder einer körperlichen Störung erklärt werden kann, und der anhaltend der Hauptfokus der Aufmerksamkeit der Patienten ist.

  • Die Diagnose sollte nur durch einen erfahrenen Arzt oder Psychotherapeuten gestellt werden, der Sie beraten und in der Behandlung unterstützen kann. Bitte wenden Sie sich an einen Arzt oder Psychotherapeuten, sofern Sie den Verdacht haben, an einer somatoformen Störung zu leiden. Zur Ergänzung des klinischen Eindrucks wird die Diagnostik durch Fragebögen wie beispielsweise SOMS oder WI ergänzt.

WIE ENTSTEHT EINE SOMATOFORME STÖRUNG?

Es gibt viele Ursachen, die zur Entstehung von somatoformen Störungen beitragen. Gewisse Risikofaktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit zu erkranken:

  • Genetische Aspekte, veränderte Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsprozesse sowie körperliche Veränderungen (wie z.B. nach Unfällen) begünstigen die Entstehung.
  • Belastende Ereignisse in der Kindheit (z.B. Vernachlässigung), Verlust einer geliebten Person, ein häufig erkranktes Elternteil oder zurückliegende traumatische Erlebnisse, können zusätzlich das Risiko einer somatoformen Störung erhöhen.
  • Nach dem Modell der „somatosensorischen Verstärkung“ führt eine starke Aufmerksamkeitsfokussierung auf körperliche Vorgänge zu einer verstärkten Wahrnehmung von Symptomen. Dabei interpretieren Betroffene diese Symptome oft fälschlicherweise als Zeichen einer schweren Krankheit (z. B. bei Herzklopfen nach dem Treppensteigen: „Ich könnte einen Herzfehler haben“) und „katastrophisieren“ (das Schlimmste wird vermutet) so ihre gesunden Körperempfindungen. Dies wiederum führt zu Angst und damit einem Ausstoß von Stresshormonen, womit erneut körperliche Symptome provoziert werden (z. B. noch stärkeres Herzklopfen). Die betroffene Person richtet die Aufmerksamkeit erneut auf diese stärker werdenden körperlichen Empfindungen; ein Teufelskreis entsteht.
  • Hinzu kommt ein unrealistischer Gesundheitsbegriff, z.B. die Überzeugung, dass ein gesunder Körper keine Beschwerden haben dürfe und dass ein Arzt immer sofort die Ursache für Beschwerden erkennen müsse.
  • Manche Menschen haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Stattdessen drückt sich z. B. ihre „Wut im Bauch“ in Form von Bauchkrämpfen aus, ohne dass das dazugehörige Gefühl wahrgenommen oder benannt werden kann.

WIE WIRD EINE SOMATOFORME STÖRUNG AUFRECHTERHALTEN?

  • Menschen mit einer somatoformen Störung haben eine oftmals verzerrte Wahrnehmung und Interpretation von körperlichen Empfindungen und erleben diese als bedrohlich. Darauf folgt eine erhöhte Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper und eine physiologische Erregung. Die Symptomatik wird verstärkt und die betroffene Person sieht sich wiederum im Erleben, eine bedrohliche Krankheit zu haben, bestätigt. Dieser „Teufelskreis“ trägt dazu bei, dass eine andauernde Beschäftigung mit der Thematik beibehalten wird.
  • Versuche, mit den „Krankheitsanzeichen“ umzugehen, sind das „Checking“ des eigenen Körpers (Kontrollieren), übermäßig viele Sorgen über die Gesundheit, häufige Arztbesuche („Doctor-Hopping“), Medikamenteneinnahme und Schonung des Körpers. Dies hält die Symptomatik aufrecht. Das Kontrollverhalten sorgt zunächst zwar für Erleichterung („Wenn der Arzt sagt, dass der Hautausschlag ungefährlich ist, dann bin ich beruhigt“), schafft aber längerfristig eine Chronifizierung der Problematik, da das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und die Normalität von Körpersymptomen so nicht aufgebaut wird.
  • Aufmerksamkeit durch andere, die einen unterstützen möchten, kann unter Umständen ein positiver Nebeneffekt sein, der ebenfalls zur Aufrechterhaltung beitragen kann.

Modell nach Rief&Hiller, 1998:

WIE ERFOLGT DIE BEHANDLUNG EINER SOMATOFORMEN STÖRUNG?

  • Eine somatoforme Störung ist mit Hilfe von verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten gut therapierbar. Die Wirksamkeit von Psychotherapie ist wissenschaftlich bestätigt.
  • In der Verhaltenstherapie gibt es z. B. die kognitive Therapie, in der es um die Bearbeitung von ungünstigen Gedankenmustern und ein Hinterfragen von automatisch auftretenden Gedanken geht. Die Bewertung und Interpretation von bestimmten Situationen und Reizen, die zur Aufrechterhaltung der jeweiligen Symptomatik beitragen, wird hierbei verändert.
  • Die körperliche Symptomatik wird ernst genommen und nicht als „Einbildung“ abgetan. Es erfolgt eine genaue Analyse vom Erstauftreten der Umstände sowie eine gemeinsame Erkundung der Symptomatik. Erst in einem zweiten Schritt werden mögliche Verbindungen zu psychischen Faktoren wie Stress exploriert.
  • Besonders wichtig für eine dauerhafte Verbesserung sind das Erlernen eines gesunden Umganges mit dem Körper, eine angemessene Interpretation von körperlichen Empfindungen und ein realistisches Gesundheitskonzept.
  • Auch der langsame Abbau von Schon- und Kontrollverhalten sowie Rückversicherungsverhalten und die Reduzierung von Arztbesuchen werden in der Therapie angestrebt.
  • Neben der Therapie können auch Entspannungsverfahren, soziale Kompetenztrainings und das Aneignen von Bewältigungsstrategien eine Verbesserung erzielen.

Konkrete Therapieschritte können dabei sein:

  • Aufbau von Krankheitsverständnis und einer vertrauensvollen therapeutischen Arbeitsbeziehung
  • Wissensvermittlung zur Störung und Entwicklung eines individuellen Krankheitsmodells
  • Selbstbeobachtung mit Hilfe eines Symptomtagebuchs, Analyse der Zusammenhänge
  • Übungen zur Aufmerksamkeitslenkung
  • Erlernen von Entspannungsverfahren (z.B. Progressive Muskelentspannung oder Autogenes Training)
  • Kognitive Therapie: Hinterfragen von Interpretationen, alternative Erklärungen und Neubewertung
  • Veränderung bzw. Stärkung des Selbstbildes, Erhöhung der Belastbarkeit
  • Aufbau positiver Aktivitäten
  • Rückfallprophylaxe

LITERATUREMPFEHLUNGEN UND LESETIPPS

  • Lieb & von Pein: Der kranke Gesunde. Stuttgart: Trias.
  • Rauh & Rief: Ratgeber Somatoforme Beschwerden und Krankheitsängste. Göttingen: Hogrefe.
  • Rief & Hiller: Somatisierungsstörung und Hypochondrie. Göttingen: Hogrefe.
  • Richter: Schmerzen verlernen, Springer
  • Sachse: Schwarz ärgern – aber richtig! Paradoxe Ratschläge für Psychosomatiker

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